7.4 Der Aktienkurs als stochastischer Prozess

Aktienkurse sind an sich stochastische Prozesse in diskreter Zeit, die wegen der eingeschränkten Messgenauigkeit auch nur diskrete Werte annehmen. Dennoch werden oft stochastische Prozesse in stetiger Zeit als Modelle benutzt, da sie rechnerisch nicht so aufwändig wie diskrete Modelle - z.B. der Binomial- oder Trinomialprozess - sind. Letztere sind jedoch oft anschaulicher und sind besonders nützlich für Simulationen.

Der allgemeine Wiener-Prozess $ dX_t = \mu dt + \sigma \, dW_t $ eignet sich selbst weniger als Aktienkursmodell, da er zum einen negative Aktienkurse zulassen würde, zum anderen die lokale Variabilität größer ist, wenn der Kurs selbst sich auf hohem Niveau bewegt. Daher wird in einem allgemeinen Ansatz der Börsenkurs $ S_t$ einer Aktie als Itô-Prozess modelliert:

$\displaystyle dS_t = \mu (S_t, t) dt + \sigma (S_t, t) dW_t $

Dieses Modell hängt von den nicht von vorneherein bekannten Funktionen $ \mu (X, t) $ und $ \sigma (X,t)$ ab. Eine brauchbare, einfache Variante, in der nur noch zwei reellwertige Modellparameter $ \mu$ und $ \sigma$ unbekannt sind, erhält man durch folgende Überlegung: Die Rendite als prozentualer Zuwachs des eingesetzten Kapitals soll im Mittel nicht vom aktuellen Kurs bei Kauf der Aktien und schon gar nicht von der Einheit abhängen (EUR, USD, ...), in der der Aktienwert gemessen wird. Außerdem soll die mittlere Rendite wie bei anderen Anlageformen proportional zur Länge des Anlagezeitraums sein. Zusammen ergibt sich die Forderung

$\displaystyle \frac{\mathop{\text{\rm\sf E}}[dS_t]}{S_t} \, = \, \frac{\mathop{\text{\rm\sf E}}[S_{t+dt} - S_t]}{S_t} \, = \,
\mu \cdot dt . $

Da $ \mathop{\text{\rm\sf E}}[dW_t] = 0, $ ist diese Bedingung bei gegebenem Ausgangskurs $ S_t$ erfüllt, wenn

$\displaystyle \mu (S_t, t) = \mu \cdot S_t \, . $

Darüberhinaus wird analog angesetzt:

$\displaystyle \sigma (S_t, t) = \sigma \cdot S_t \, , $

was die Tatsache berücksichtigt, dass die absolute Größe der Fluktuationen des Kurses sich proportional ändert, wenn wir den Kurs in einer anderen Einheit messen. Zusammengefasst modellieren wir den Aktienkurs $ S_t$ als Lösung der stochastischen Differentialgleichung

$\displaystyle d S_t = \mu \cdot S_t \, dt + \sigma \cdot S_t \cdot dW_t $

$ \mu$ ist die zu erwartende Aktienrendite, $ \sigma$ die Volatilität. Ein solcher Prozess $ \{ S_t ; \, \, t \ge 0 \} $ heißt geometrische Brownsche Bewegung, da

$\displaystyle \frac{dS_t}{S_t} = \mu \, dt + \sigma \, dW_t \, .$

Mit Itôs Lemma, welches wir im Abschnitt 5.5 vorstellen, lässt sich zeigen, dass für einen passenden allgemeinen Wiener-Prozess $ \{ Y_t; \, \, t \ge 0 \} $

$\displaystyle S_t = e^{Y_t}$   bzw.$\displaystyle \quad Y_t = \ln S_t \, . $

Da $ Y_t$ normalverteilt ist, ist $ S_t$ somit lognormalverteilt. So wie Irrfahrten diskrete Approximationen für den allgemeinen Wiener-Prozess liefern, lässt sich die geometrische Brownsche Bewegung, d.h. das einfache Modell für den Aktienkurs, durch geometrische Irrfahrten annähern.

Abb.: Vergleich der Dichten von lognormal und normal verteilten Zufallsgrößen 9998 SFMLogNormal.xpl
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