19.3 Schätzer für Risikomaße

Der Value-at-Risk, den wir bereits in den vorhergehenden Kapiteln betrachtet haben, ist nicht das einzige Maß, mit dem sich Marktrisiken quantifizieren lassen. In diesem Abschnitt betrachten wir zusätzlich eine Alternative und einige prinzipielle Forderungen an Risikomaße. Außerdem diskutieren wir Schätzer für diese Maße für den Fall, dass mit extrem hohen Verlusten zu rechnen ist.

Definition 19.12 (Value-at-Risk und erwarteter Shortfall)  
Sei $ 0 < q < 1,$ und $ F$ die Verteilung des Verlustes $ X$ einer Finanzanlage innerhalb eines vorgegebenen Zeitraums, z.B. ein Tag oder 10 Handelstage. Typische Werte für $ q$ sind $ q = 0.95$ und $ q = 0.99.$

a) Der Value-at-Risk (VaR) ist das $ q$-Quantil

$\displaystyle VaR _q (X) = x_q = F^{-1} (q).$

b) Der erwartete Shortfall ist definiert als

$\displaystyle S_q = \mathop{\text{\rm\sf E}}\{ X\vert X > x_q\}. $

Der Value-at-Risik ist derzeit noch das gängige Maß, mit dem Marktrisiken quantifiziert werden. Man kann aber davon ausgehen, dass in Zukunft der erwartete Shortfall eine wenigstens gleichwertige Rolle spielen wird.

Definition 19.13 (Kohärentes Risikomaße)  
Ein kohärentes Risikomaß ist eine reellwertige Funktion $ \rho: \mathbb{R} \to \mathbb{R}$ von reellwertigen Zufallsgrößen, die die Verluste modellieren, mit den folgenden Eigenschaften:

(A1)     $ X \ge Y $ f.s. $ \Longrightarrow \rho (X) \ge \rho (Y)$ (Monotonie)
(A2)      $ \rho (X+Y) \le \rho (X) + \rho (Y) $ (Subadditivität)
(A3)     $ \rho (\lambda X) = \lambda \rho (X)$ für $ \lambda \ge 0$ (positive Homogeneität)
(A4)     $ \rho (X+a) = \rho (X) + a $ (Translationequivarianz)

Diese Bedingungen entsprechen intuitiv einleuchtenden Forderungen an
Marktrisikomaße:
(A1) Wenn der Verlust aus Anlage $ X$ stets größer als der aus Anlage $ Y$ ist, dann ist auch das Risiko von Anlage $ X$ größer.
(A2) Das Risiko eines Portfolios aus den Anlagen $ X$ und $ Y$ ist höchstens so groß wie die Summe der Einzelrisiken (Diversifizierung des Risikos).
(A3) Wenn eine Investition vervielfacht wird, dann vervielfacht sich das Risiko entsprechend.
(A4) Durch Hinzunahme einer risikolosen, d.h. nicht zufallsbehafteten Anlage mit bekanntem Verlust $ a$ ($ a<0$, wenn die Anlage sicheren Ertrag abwirft), in ein Portfolio, ändert sich das Risiko genau um $ a$.

Der VaR verletzt in gewissen Situationen Bedingung (A2). $ X, Y$ seien z.B. u.i.v., und beide nehmen nur die beiden Werte 0 oder 100 an mit den Wahrscheinlichkeiten $ \P(X=0) = \P(Y=0) = p$ und $ \P(X=100) = \P(Y=100) = 1-p.$ Dann nimmt $ X+Y$ die Werte 0, 100 und 200 an mit $ \P(X+Y=0) = p^2$, $ \P(X+Y=100) = 2p(1-p)$ und $ \P(X+Y=200) = (1-p)^2.$ Für $ p^2 < q < p$ und $ q < 1-(1-p)^2$, z.B. für $ p=0.96, q=0.95$, gilt daher

$\displaystyle VaR _q (X) = VaR _q (Y) = 0, \; \;$   aber$\displaystyle \; \; VaR _q (X+Y) = 100. $

Der erwartete Shortfall ist dagegen ein kohärentes Risikomaß, das immer alle vier Bedingungen erfüllt. Er liefert auch intuitiv mehr Einsicht in das tatsächliche Risiko extremer Verluste als der Value-at-Risk. Der VaR hängt nur von der Häufigkeit von Verlusten oberhalb des $ q$-Quantils $ x_q$ ab, sagt aber nichts darüber aus, ob diese Verluste die Schwelle $ x_q$ stets nur geringfügig überschreitet oder ob auch mit Verlusten, die viel größer als $ x_q$ sind, gerechnet werden muss. Der erwartete Shortfall ist dagegen der Erwartungswert der Verluste jenseits von $ x_q$ und hängt von deren tatsächlichen Größe ab.

Der Value-at-Risk ist einfach ein Quantil und kann zum Beispiel als Stichprobenquantil $ \hat{F}_n^{-1}(q)$ geschätzt werden, wobei $ \hat{F}_n(x)$ die empirische Verteilungsfunktion einer Stichprobe von negativen Erträgen, d.h. Verlusten, aus der Vergangenheit ist. Wie zu Beginn dieses Kapitels diskutiert, ist dieser Schätzer für $ q \approx 1$, also gerade für die typischen VaR-Niveaus 0.95 und 0.99, oft zu optimistisch. Alternative VaR-Schätzer, die die Möglichkeit extremer Verluste besser berücksichtigen, sind der POT- oder der Hill-Quantilenschätzer.

Analoge Schätzer für den erwarteten Shortfall lassen sich leicht herleiten. Dieses Risikomaß hängt eng mit der mittleren Exzessfunktion an der Stelle $ u = x_q$ zusammen, wie sofort aus den Definitionen folgt:

$\displaystyle S_q = e(x_q) + x_q. $

Wir betrachten hier nur den POT-Schätzer für $ S_q$. Da $ F_u (x) \approx W_{\gamma, \beta} (x)$ für genügend große Schwellenwerte $ u$, gilt wegen Satz 17.5, b) mit $ \alpha = 1/\gamma$

$\displaystyle e(v) \approx \frac{\beta + (v - u)\gamma}{1-\gamma} \; \;$   für$\displaystyle \; \; v > u.$

Daher haben wir für $ x_q > u$

$\displaystyle \frac{S_q}{x_q} = 1 + \frac{e(x_q)}{x_q} \approx \frac{1}{1-\gamma} + \frac{\beta - \gamma u}{x_q (1-\gamma)}. $

Der POT-Schätzer für den erwarteten Shortfall $ S_q$ ist daher

$\displaystyle \hat{S}_{q,u} = \frac{\hat{x}_q}{1-\hat{\gamma}} + \frac{\hat{\beta} -
\hat{\gamma}u}{1-\hat{\gamma}}, $

wobei $ \hat{x}_q$ der POT-Quantilenschätzer ist.