8.2 Die Black-Scholes-Formel für europäische Optionen

In diesem Abschnitt verwenden wir die Black-Scholes-Gleichung zur Berechnung des Preises europäischer Optionen. Wir halten uns an die Notation des vorigen Kapitels und schreiben

$\displaystyle C(S,t) = C_{K,T}(S,t) , \hspace*{2cm} P(S,t) = P_{K,T}(S,t)$

für den Wert zur Zeit $ t \leq T$ eines europäischen Calls bzw. Puts mit Ausübungskurs $ K$ und Fälligkeitstermin $ T$, wenn das zugrundeliegendes Objekt, z.B. eine Aktie, zur Zeit $ t$ den Kurs $ S_t=S$ hat. Der Wert der Kaufoption erfüllt dann für alle Kurse $ S$ mit $ 0<S<\infty$ die Differentialgleichung
$\displaystyle rC(S,t) - bS\frac {\partial C(S,t)}{\partial S}-\frac 12\sigma^2S...
...al S^2} %% \nonumber \\
=\frac {\partial C(S,t)}{\partial t}, \;
0\leq t\le T,$     (8.17)
$\displaystyle %%*[+3mm]
C(S,T)=\max \{0,S-K\},\; 0<S<\infty ,$     (8.18)
$\displaystyle C(0,t)=0, \quad \lim \limits_{S\rightarrow\infty}C(S,t) - S = 0,\;
0\leq t\leq T.$     (8.19)

Die erste Randbedingung (6.18) ergibt sich sofort aus der Definition des Calls, der nur ausgeübt wird, wenn $ S_T > K$, und der dann den Gewinn $ S_T-K$ einbringt. Die erste Bedingung in (6.19) ergibt sich aus der Beobachtung, dass die geometrische Brownsche Bewegung $ S_t$ in der Null bleibt, wenn sie erst einmal den Wert Null angenommen hat, d.h. aus $ S_t = 0$ für ein $ t < T$ folgt automatisch $ S_T = 0$, und der Call wird nicht ausgeübt. Die zweite Bedingung in (6.19) ergibt sich aus der Überlegung, dass die geometrische Brownsche Bewegung $ S_t$ den Ausübungskurs nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit wieder unterschreitet, wenn sie erst einmal ein Niveau weit oberhalb von $ K$ erreicht hat. Wenn $ S_t \gg K$ für ein $ t < T$ dann gilt auch mit hoher Wahrscheinlichkeit $ S_T \gg K$. Der Call wird also ausgeübt und liefert den Ertrag $ S_T - K \approx S_T$.

Die Differentialgleichung (6.17) mit den Randbedingungen (6.18), (6.19) kann analytisch gelöst werden. Wir transformieren sie dazu in eine aus der Literatur bekannte Form. Zuerst ersetzen wir die Zeitvariable $ t$ durch die Restlaufzeit $ \tau = T - t$. Dadurch wird das Problem mit Endbedingung (6.18) bei $ t=T$ zu einem Anfangswertproblem bei $ \tau = 0$. Anschließend multiplizieren wir (6.17) mit $ 2/\sigma^2$ und ersetzen die Parameter $ r, b$ durch

$\displaystyle \alpha =\frac {2r}{\sigma^2},~\beta =\frac {2b}{\sigma^2} , $

sowie die Variablen $ \tau, S$ durch

$\displaystyle v=\sigma^2(\beta -1)^2\frac{\tau}{2} , \hspace*{2cm} u=(\beta -1)\ln\frac{S}{K}+v .$

Während für die alten Parameter $ 0 \leq S < \infty, 0 \leq t \leq T$ gegolten hat, ergibt sich für den Wertebereich der neuen Parameter

$\displaystyle -\infty < u < \infty, \hspace*{2cm} 0 \leq v \leq \frac{1}{2} \sigma^2(\beta -1)^2 T \stackrel{\mathrm{def}}{=}v_T . $

Schließlich setzen wir

$\displaystyle g(u,v) = e^{r \tau} C(S,T-\tau)$

und erhalten die neue Differentialgleichung

$\displaystyle \frac {\partial ^2g(u,v)}{\partial u^2} = \displaystyle \frac {\partial g(u,v)}{\partial v} .$ (8.20)

mit der Anfangsbedingung

$\displaystyle g(u,0) = K\max \{0,e^{\frac u{\beta -1}}-1\} \stackrel{\mathrm{def}}{=}g_0(u), \quad -\infty <u<\infty .$ (8.21)

Anfangswertprobleme dieser Art sind aus der Literatur über partielle Differentialgleichungen bestens bekannt. Sie treten beispielsweise bei der mathematischen Modellierung von Wärmeleitungs- und Diffusionsprozessen auf. Die Lösung ist

$\displaystyle g(u,v)=\int \limits_{-\infty}^{\infty} \frac{1}{2\sqrt{\pi v}} g_0(\xi )e^{-\frac{(\xi -u)^2}{4v}}d\xi.$

Den Optionspreis erhalten wir daraus, indem wir die Variablen- und Parametertransformationen rückgängig machen. Wir schreiben im folgenden wieder wie in Kapitel 2.1 $ C(S,\tau)$ für den Call-Preis als Funktion der Restlaufzeit $ \tau = T - t$ anstelle der aktuellen Zeit $ t$. Dann haben wir

$\displaystyle C(S,\tau)=e^{-r \tau}g(u,v)=e^{-r \tau}\int \limits_{-\infty}^{\infty}
\frac{1}{2\sqrt{\pi v}}g_0(\xi )e^{-\frac{(\xi -u)^2}{4v}}d\xi$

Durch Substitution $ \xi =(\beta -1)\ln(x/K)$ erhalten wir die Anfangsbedingung in ihrer ursprünglichen Form $ \max \{ 0,x-K\} $. Ersetzen wir außerdem $ u$ und $ v$ wieder durch die Variablen $ S$ und $ \tau$, erhalten wir
$\displaystyle C(S,\tau)$ $\displaystyle =$ $\displaystyle e^{-r\tau}\int \limits_0^{\infty}\max ( 0,x-K)$  
    $\displaystyle \frac{1}{\sqrt{2\pi }\sigma \sqrt{\tau}x}\exp\{-\frac{[\ln
x-\{\ln S +(b-\frac{1}{2}\sigma^2) \tau\}]^2}{2\sigma ^2
\tau}\}dx.$ (8.22)

Für die geometrische Brownsche Bewegung ist $ S_T - S_t$ lognormalverteilt, d.h. $ \ln (S_T - S_t)$ ist normalverteilt mit den Parametern $ (b-\frac{1}{2}\sigma^2)\tau$ und $ \sigma ^2 \tau$. Die bedingte Verteilung von $ S_T$ gegeben $ S_t=S$ ist demnach ebenfalls eine Lognormalverteilung mit den Parametern $ \ln S + (b-\frac{1}{2}\sigma^2)\tau$ und $ \sigma ^2 \tau$. Der Integrand von (6.22) ist aber bis auf den Faktor $ \max ( 0,x-K)$ gerade die Dichte dieser Verteilung. Damit erhalten wir die interessante Interpretation des Callwertes $ C(S,\tau)$ als abgezinster Erwartungswert der Endbedingung $ \max ( 0,S_T-K)$ gegeben den aktuellen Kurs $ S_t=S$:

$\displaystyle C(S,\tau) = e^{-r\tau} \mathop{\text{\rm\sf E}}[ \max ( 0,S_T-K) \, \vert \, S_t = S] .$ (8.23)

Diese Eigenschaft ist bei der Herleitung numerischer Verfahren zur Berechnung von Optionswerten hilfreich. Zuerst nutzen wir aber aus, dass (6.22) ein Integral bzgl. der Dichte einer Lognormalverteilung enthält, um den Ausdruck weiter zu vereinfachen. Durch geeignete Substitution formen wir ihn in ein Integral bzgl. der Dichte einer Normalverteilung um und erhalten

$\displaystyle C(S,\tau)=e^{(b-r)\tau}S\Phi (y+\sigma\sqrt {\tau}) - e^{-r\tau}K\Phi (y),$ (8.24)

wobei $ y$ abkürzend für

$\displaystyle y=\frac {\ln\frac SK +(b-\frac {1}{2}\sigma^2)\tau}{\sigma\sqrt {\tau}},$ (8.25)

steht und $ \Phi $ die Verteilungsfunktion der Standardnormalverteilung bezeichnet:

$\displaystyle \Phi(y)=\frac 1{\sqrt {2\pi}}\int_{-\infty}^ye^{-\frac {z^2} 2}dz .$

(6.24) ist zusammen mit (6.25) die Black-Scholes-Formel für den Preis einer europäischen Kaufoption. In den Grenzfällen $ S \gg K$ und $ S=0$ erhalten wir: Die entsprechende Black-Scholes-Formel für den Preis $ P(S,\tau)$ einer europäischen Verkaufsoption könnten wir genauso durch Lösen der Black-Scholes-Differentialgleichung mit den passenden Randbedingungen herleiten. Einfacher ist aber das Ausnutzen der Put-Call-Parität (Satz 2.3)

$\displaystyle P(S,\tau)=C(S,\tau)-Se^{(b-r)\tau}+Ke^{-r\tau} .$

Hieraus erhalten wir zusammen mit (6.24) sofort

$\displaystyle P(S,\tau)=e^{-r\tau}K\Phi (-y)-e^{(b-r)\tau}S\Phi (-y-\sigma\sqrt {\tau}).$ (8.26)

Für den Wert europäischer Kauf- und Verkaufsoptionen gibt es also explizite Formeln. Die beiden Terme in der Formel (6.24) für z.B. den Wert der Kaufoption lassen sich grob folgendermaßen interpretieren, wobei wir uns auf den dividendenfreien Fall $ b=r$ beschränken. Der erste Term ist dann $ S\Phi (y+\sigma \sqrt{\tau})$ und repräsentiert in erster Linie den Wert der Aktie, die der Käufer der Kaufoption im Fall der Ausübung seines Rechts beziehen kann. Der andere Term $ e^{-r\tau}K\Phi (y)$ steht in erster Linie für den Wert des Ausübungskurses. Über die Variable $ y$ beeinflusst natürlich das Verhältnis $ S/K$ beide Terme.

Bei der Herleitung der Black-Scholes-Differentialgleichung haben wir gesehen, dass insbesondere der Wert einer Kaufoption durch Aktien und Anleihen dupliziert werden kann. Der in Aktien investierte Betrag ergibt sich dabei als $ \frac {\partial C}{\partial S}S$, wobei $ \frac{\partial C}{\partial S}$ die Hedge-Rate ist. Sie bestimmt das zum Hedgen notwendige, auch Delta genannte Verhältnis zwischen Aktien und Optionen. Leitet man die Black-Scholes-Formel (6.24) nach $ S$ ab, so erhält man

$\displaystyle \frac{\partial C(S,t)}{\partial S}=\Phi (y+\sigma \sqrt{\tau}) .$

Der erste Term in (6.24) steht somit für den im Duplikationsportfolio in Aktien und der zweite für den in Anleihen investierten Betrag.

Da die analytischen Lösungsformeln die Auswertung der Standardnormalverteilungsfunktion erfordert, was nur numerisch erfolgen kann, muss man für die praktische Anwendung der Black-Scholes-Formel auf Näherungen der Normalverteilung zurückgreifen. Davon kann in geringem Maße der berechnete Optionswert abhängen. Zur Illustration betrachten wir verschiedene in der Literatur (beispielsweise Hastings (1955)) beschriebene Näherungsformeln.

a.) Die Normalverteilung kann folgendermaßen approximiert werden:

$\displaystyle \Phi (y)\approx 1-(a_1t+a_2t^2+a_3t^3)e^{-\frac {y^2}2},$   mit

\begin{displaymath}
\begin{array}{ll}
\displaystyle t= (1+by)^{-1},\quad &b=0.33...
...401209,\quad &a_2=-0.04793922,\\
a_3=0.373927817.&
\end{array}\end{displaymath}

Der Approximationsfehler hat unabhängig von $ y$ die Größenordnung $ {\mathcal{O}}(10^{-5})$.
11167 SFMNormalApprox1.xpl

b.)

$\displaystyle \Phi (y)\approx 1-(a_1t+a_2t^2+a_3t^3+a_4t^4+a_5t^5)e^{-\frac {
y^2}2},\quad\text{\rm mit}$

\begin{displaymath}
\begin{array}{lll}
\displaystyle t=(1+by)^{-1},\quad &b=0.23...
...70687,\\
a_4=-0.726576013,\quad &a_5=0.530702714.&
\end{array}\end{displaymath}

Der Fehler dieser Approximation liegt bei $ {\mathcal{O}}(10^{-7})$.
11173 SFMNormalApprox2.xpl

c.) Eine andere Approximation der Normalverteilung, deren Fehler von der Größenordnung $ {\mathcal{O}}(10^{-5})$ ist, lautet:

$\displaystyle \Phi (y)\approx 1-\frac 1{2(a_1y+a_2y^2+a_3y^3+a_4y^4+a_5y^5)^8}
,$   mit

\begin{displaymath}
\begin{array}{lll}
a_1=0.099792714,\quad &a_2=0.044320135,\q...
...99203,\\
a_4=-0.000098615,\quad &a_5=0.000581551.&
\end{array}\end{displaymath}

11179 SFMNormalApprox3.xpl

d.) Als letzte Möglichkeit wollen wir hier noch die Taylorreihenzerlegung angeben:

$\displaystyle \Phi (y)$ $\displaystyle \approx$ $\displaystyle \frac 12+\frac 1{\sqrt {2\pi}}\left(y-\frac {y^
3}{1!2^13}+\frac {y^5}{2!2^25}-\frac {y^7}{3!2^37}+\cdot\cdot\cdot\right
)=$  
  $\displaystyle =$ $\displaystyle \frac 12+\frac 1{\sqrt {2\pi}}\sum_{n=0}^{\infty}(-1)^n\frac {y^{
2n+1}}{n!2^n(2n+1)}.$  

Mit Hilfe dieser Reihe kann die Normalverteilung beliebig genau angenähert werden, wobei natürlich mit der Genauigkeit auch die Anzahl der benötigten Summanden und somit der arithmetischen Operationen steigt.
11182 SFMNormalApprox4.xpl

Ein Vergleich aller vier Näherungsformeln ist in der Tabelle 6.1 enthalten. Die Taylorreihe wurde beim ersten Summanden, der betragsmäßig kleiner als $ 10^{-5}$ ist, abgebrochen. Die letzte Spalte gibt dabei die Nummer des letzten Summanden an.


Tabelle 6.1: Verschiedene Approximationen der Normalverteilung
$ x$ norm-a norm-b norm-c norm-d iter
1.0000 0.8413517179 0.8413447362 0.8413516627 0.8413441191 6
1.1000 0.8643435425 0.8643338948 0.8643375717 0.8643341004 7
1.2000 0.8849409364 0.8849302650 0.8849298369 0.8849309179 7
1.3000 0.9032095757 0.9031994476 0.9031951398 0.9031993341 8
1.4000 0.9192515822 0.9192432862 0.9192361959 0.9192427095 8
1.5000 0.9331983332 0.9331927690 0.9331845052 0.9331930259 9
1.6000 0.9452030611 0.9452007087 0.9451929907 0.9452014728 9
1.7000 0.9554336171 0.9554345667 0.9554288709 0.9554342221 10
1.8000 0.9640657107 0.9640697332 0.9640670474 0.9640686479 10
1.9000 0.9712768696 0.9712835061 0.9712842148 0.9712839202 11
2.0000 0.9772412821 0.9772499371 0.9772538334 0.9772496294 12



Tabelle: Bestimmung des europäischen Callpreises mit verschiedenen Approximationen der Normalverteilung 11187 SFMBSCopt1.xpl
Aktienkurs $ S_t$ 230.00 EUR/Aktie
Ausübungskurs $ K$ 210.00 EUR/Aktie
stetiger Zinssatz $ r$ 0.04545  
stetiger Bestandshaltekosten $ b$ 0.04545 keine Dividende
Volatilität $ \sigma$ 0.25000 p.a.
Restlaufzeit $ \tau = T - t$ 0.50000 a
Optionspreise norm-a 30.74262  
Optionspreise norm-b 30.74158  
Optionspreise norm-c 30.74352  
Optionspreise norm-d 30.74157  


Die Tabelle 6.2 zeigt den Optionspreis, der mit Hilfe der Formel (6.24) für eine konkrete europäische Kaufoption auf der Grundlage verschiedener Approximationen der Normalverteilung berechnet wurde.